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Karl Heinz Roth: Der Zustand der Welt. Gegen-Perspektiven VSA-Verlag, Hamburg, 2005, 94 Seiten, 9 Euro Karl Heinz Roth legt auf schnell zu lesenden 90 Seiten sowohl eine Analyse der gegenwärtigen Situation des globalen Kapitalismus vor, als auch eine Skizze zu dessen Überwindung. Inspiriert von der Weltsystemanalyse, dem italienischen Operaismus, der Kontradieffschen Theorie der „langen Wellen“ sowie der Theorien Max Webers und Karl Polanyis reiht sich Roths Text in die seit dem Ende des Postmoderne-Hypes wieder en vogue gewordene Serie „großer Erzählungen“ ein. Wie bereits Hardt und Negris Empire zielt Roths Text auf eine Darstellung neuer Formen von Ökonomie wie auch politischer Souveränität in globaler Perspektive ab. Roth macht sich angreifbar, wie das angesichts der Kürze seines Texts auch nicht verwunderlich ist. Im Gegensatz zu noch-immer-Parteiaufbau-orientierten Linken fehlt dem Text glücklicher Weise die jene auszeichnende Hermetik. „Der Zustand der Welt“ ist flüssig und weitgehend verständlich geschrieben; er empfiehlt sich vor allem für die jüngere Generation bzw. als Einstiegslektüre in revolutionäre Theoriebildung, aber auch generell als Vademekum und – wie meist bei Roths Texten – als Stichwortgeber und Positionspapier in aktuellen linken Debatten. Obwohl also im Folgenden hauptsächlich die von den Rothschen Ansichten differierende des Rezensenten kritisch zum Ausdruck kommen wird, sei an dieser Stelle ausdrücklich auf die Wichtigkeit des Buches als Beitrag zur aktuellen linken Debatte hingewiesen. Der Essay ist in vier Teile gegliedert: Der erste setzt sich mit der aktuellen Restrukturierung des kapitalistischen Weltsystems aus Herrschaftsperspektive auseinander, der zweite nimmt eine Perspektive von unten, von den Migrationsströmen, den kleinen und größeren Widerstandsbewegungen gegen die im ersten Kapitel beschriebenen Transformationen ein. Kapitel drei widmet sich der Notwendigkeit neuer theoretischer Instrumentarien, insbesondere unter Verweis auf Bedeutung, aber auch Unzulänglichkeit der Marxschen Theorie und der vierte und letzte Teil entwirft kühn „Umrisse einer erneuerten sozialistischen Alternative“. Ein grundsätzlicher Zug im Rothschen Text gibt jedoch den meines Erachtens nach zentralen Anlass zu Kritik: Während Karl Heinz Roth die politischen Transformationen, die Schwächen post-keynesianischer Ansätze und die Unmöglichkeit, über die Ergreifung der Staatsmacht emanzipatorische Gesellschaftsveränderungen ins Werk zu setzen, äußerst präzise umreißt, werden die nicht unmittelbar empirisch konstatierbaren Veränderungen in der globalen Arbeitsteilung, d.h. ihre postfordistische Transformation und die dadurch maßgeblich mitbestimmte und mitausgelöste Verschiebung im Verhältnis zwischen Politischem und Sozialem nur am Rande behandelt. Deutlich wird dies an der völligen Ignoranz Roths gegenüber den Ansätzen Hardt und Negris und der damit einher gehenden Empire-Debatte. Während die stark von der Weltsystemperspektive Immanuel Wallersteins und Giovanni Arrighis beeinflusste Sichtweise Karl Heinz Roths interessante Einblicke in die kapitalistische Rekonfiguration der Großstädte entlang der Achse Global Cities – Slum Cities erlaubt oder aber den gegenwärtigen Aufstieg Chinas zu einer bedeutenden kapitalistischen Macht und den damit verbundenen sozialen Auseinandersetzungen und Problemen anschaulich darstellt, fehlt es auf der anderen Seite auch nicht an Auslassungen und in Frage zu stellenden Problemsichten, wie auch das mit „Marx testen“ übertitelte dritte Kapitel zeigt: Wenn zum Beispiel Roth Marx´ analytisches Verhaftetsein im 19. Jahrhundert unterstellt. Marxens große Leistung war allerdings genau jene theoretische Antizipation der Entwicklung, die der Kapitalismus im 20. Jahrhundert – vor allem in seiner fordistischen Phase – nehmen würde. Heute ergibt sich dagegen die Problematik mehr aus dem Ende des durch die Marxschen Begriffe beschreibbaren Kapitalismus, in dem mehr und mehr die einst historisch getrennten Phänomene der „ursprünglichen Akkumulation“ und der „reellen Subsumtion“ in eins fallen. Auf diese Aspekte des postfordistischen Kapitalismus geht Roth nicht ein, er kritisiert hingegen, dass die Marxsche Theorie zu wenig radikal mit der klassischen politischen Ökonomie gebrochen habe; dies führe letztlich zu einer ungenügenden Sicht auf historisch konkrete Situationen von Ausbeutung. Dem stellt Roth eine historisch gesättigte Sichtweise der Ausbeutung gegenüber, die jedoch kaum eine kapitalistische Formbestimmung mehr kennt und schließlich Begriffe wie „globale Unterklassen“ einsetzt, welche genau das nicht leisten können, was er am Schluß des Kapitels selbst einfordert: eine Analyse globaler Arbeitsverhältnisse. Auf andere Weise problematisch ist, wenn Roth beispielsweise schreibt (im letzten Abschnitt), dass „Transport- und Kommunikationsarbeiter“ „den Kern der industriellen Arbeiterklasse des 21. Jahrhunderts“ (S. 78) konstituieren. Hier stellt sich sowohl die Frage, was das „Industrielle“ dieses Teils der Klasse darstellt, als auch, ob sich in der gegenwärtigen postfordistischen Transformationsperiode überhaupt noch ein „Kern“, d.h. eine in der Wertschöpfungskette zentrale und somit mit besonderer Produktionsmacht ausgestattete Form der Klassenzusammensetzung finden lässt. Solche Fragestellungen berühren allerdings den methodologischen Kern von Roths Analyse: Die Weltsystemperspektive auf „den Zustand der Welt“ in seiner herrschaftlichen Verfasstheit ist dem Blick auf die sozialen Kämpfe vorgeordnet – dies zeigt sich nicht zuletzt an der Hereinnahme der Kondratieffschen Theorie der „langen Wellen“ (vgl. 55). Diese Schwächen manifestieren sich auch und insbesondere im vierten Teil, wo die Zukunftsvorschläge wiederum sich mehr an möglichen Institutionen einer nachkapitalistischen Gesellschaftsordnung als an den Erfordernissen im hier und jetzt orientieren. Diese letzt genannte mikrologische Perspektive in ihrer immanenten Verbundenheit mit den „großen“, d.h. gesamtgesellschaftlichen, kommunistischen Konstitutionsbedingungen postkapitalistischer Verhältnisse im gegenwärtigen Prozess der Transformation gesellschaftlicher Arbeitsteilung hat Roth nicht, immerhin aber auch keine falschen Illusionen in die Chancen und Möglichkeiten repräsentativer Demokratiemodelle und/oder (post)keynesianischer Neoreformismen. So ist „Der Zustand der Welt“ gleichzeitig „zu viel“ und „zu wenig“: Zu viel an utopischen Spekulationen über Form und Bedingungen von Steuerungsmechanismen nachkapitalistischer Gesellschaften, zu wenig aber an Analyse der aktuell vor sich gehenden postfordistischen Transformation der Arbeitsverhältnisse, zentral bestimmt durch die offenen und versteckten, militant-politischen und alltäglichen Widerstände jener Multitude, die Roth als Weltarbeiterklasse beschreibt. Diese bilden leider nicht die Ausgangsbasis für seine Argumentation, sonst hätte das Buch wohl eher „Perspektiven gegen den Zustand der Welt“ heißen müssen. Wäre nebenbei bemerkt auch schöner gewesen, ist aber dennoch kein Grund, es nicht zu lesen.
Martin Birkner |
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