|
Anmerkungen zu Fuzis Rezension von L’insurrection qui vient / The Coming Insurrection Max Henninger Im Rezensionsteil der Grundrisse 31 ist das im März 2007 in Paris erschienene, seit 2009 auch in englischer Übersetzung vorliegende Buch L’insurrection qui vient (The Coming Insurrection) besprochen worden. Die französische Innenministerin Michèle Alliot-Marié sieht in diesem Buch das Werk einer terrorismusverdächtigen ‚anarcho-autonomen Strömung‘, wodurch es Gegenstand eines Prozesses geworden ist, den die französische Staatsanwaltschaft aktuell gegen neun im zentralfranzösischen Tarnac verhaftete Aktivisten anstrengt. Der Entschluss des Rezensenten Fuzi, den Lesern dieser Zeitschrift eine prägnante Zusammenfassung und Einschätzung von L’insurrection qui vient vorzulegen, scheint mir sehr lobenswert; mir scheint aber auch, dass wesentliche Inhalte des Buches in der Rezension auf falsche oder zumindest irreführende Weise wiedergegeben werden. Der erste Abschnitt von L’insurrection qui vient wird in Fuzis Rezension wie folgt zusammengefasst: „Ziel des aktuellen Kapitalismus ist die Selbstverwirklichung. Ein großer Teil der Bevölkerung scheitert daran und das Leiden wird medikamentös bekämpft.“ Diese Zusammenfassung scheint mir verkürzt. Es geht im ersten Abschnitt ebenso wenig wie anderswo im Buch darum, die kapitalistische Gesellschaft durch den Hinweis auf das Scheitern von Selbstverwirklichungsbemühungen anzuklagen. Es soll auch nicht primär auf die Benachteiligung irgendwelcher (majoritärer oder minoritärer) Gesellschaftssegmente aufmerksam gemacht werden; die Skandalisierung struktureller Ungerechtigkeit ist dem ganzen Gedankengang von L’insurrection qui vient fremd. Es geht vielmehr um die Entwicklung einer radikal anti-individualistischen Perspektive, aus der heraus sich der Individualismus als eine für die Warengesellschaft charakteristische Herrschaftsform zu erkennen gibt, die gerade über den (als Bedürfnis introjizierten) Imperativ der Selbstverwirklichung funktioniert. Die Selbstverwirklichung gelingt allen gleichermaßen schlecht, und sie muss es tun, weil das zu verwirklichende Selbst eine – für den Kapitalismus funktionale – Fiktion ist: „Das Ich ist nicht das, was bei uns in der Krise ist, sondern die Form, die man uns aufzuzwingen versucht“ (S. 17/33; Seitenangaben beziehen sich hier und im Folgenden zuerst auf die französische und dann auf die englische Ausgabe). In dem Ausmaß, in dem sich das, was im Kapitalismus als Gesellschaftlichkeit durchgeht, auf Warenzirkulation reduziert, muss sich auch der Individualismus als Herrschaftsform durchsetzen. Der Individualismus wird in L’insurrection qui vient als das Trennende und Ordnende schlechthin begriffen; wo er triumphiert, sieht die Welt aus „wie eine Autobahn, ein Erlebnispark oder eine neu gebaute Stadt“ (ebd.). Für die derart zugerichtete Welt wird im vierten Abschnitt des Buches der Begriff der ‚Metropole‘ geprägt. Zu ihm ist in Fuzis Rezension kaum mehr zu lesen, als dass die ‚Metropole‘ die ‚Stadt‘ ersetzt habe. Ich meine, es wäre wichtig gewesen, auch diesen Abschnitt etwas ausführlicher zu resümieren. Ausgegangen wird dort von der Feststellung, die Diskussionen um den Gegensatz von Stadt und Land (bzw. um seine Aufhebung, wie sie im Marxismus anvisiert wurde) hätten sich erledigt, da heute weder von der Stadt noch vom Land die Rede sein könne: „Was sich um uns herum erstreckt, hat weder aus der Nähe noch aus der Ferne betrachtet irgendetwas damit zu tun“ (S. 38/52). Stadt und Land sind L’insurrection qui vient zufolge in einem einzigen unbestimmten und unbegrenzten Raum aufgegangen, einem „weltweiten Kontinuum“ aus Einkaufszentren, Wohnsiedlungen, Industriezonen, Lebensmittelanbaugebieten, Ferien- und Wochenendausflugszielen (ebd.). Was als unberührte Landschaft ausgegeben wird, ist bereits Gegenstand von Marketingstrategien, und die historische Altstadt hat keine andere Bestimmung mehr als die, Kulisse für einen von Polizisten und Bürgerwehren bewachten Weihnachtsmarkt zu sein. Gegen diese vollständig vom Kapital subsumierte Welt wird mit einem klassisch anarchistischen Gestus eine unkontrollierbare Gesellschaftlichkeit von unten gesetzt, die sich informell organisiert und damit der atomisierenden Erfassung durch die staatlichen Kontrollorgane entzieht. Diese Gesellschaftlichkeit wird allerdings nicht als eine bereits vorhandene, sondern als eine erst noch herzustellende verstanden. Eben darum haben die vier letzten Abschnitte des Buches nicht mehr den Charakter einer Zustandsbeschreibung, sondern den eines Entwurfs. Der in diesen Abschnitten entwickelte Begriff der ‚Kommune‘ und die mit ihm einhergehenden Überlegungen zur ‚Freundschaft‘ und zur Herstellung gemeinschaftlich genutzter ‚Territorien‘ wären von dem oben hervorgehobenen radikalen Anti-Individualismus aus zu erschließen (S. 98/108). Am Ende seiner Rezension berichtet Fuzi, er habe nach der Lektüre von L’insurrection qui vient Abstand genommen von seiner ursprünglichen Absicht, einen theoretischen Arbeitskreis zum Buch zu gründen. Dieses sei „theoretisch nicht besonders ergiebig.“ Gegen Fuzis Urteil ließe sich einwenden, dass sich in L’insurrection qui vient an vielen Stellen Bezüge auf Werke der zeitgenössischen Philosophie finden. So ist der Begriff des Territoriums der Philosophie von Gilles Deleuze und Félix Guattari entnommen, während der Titel auf einen Text von Giorgio Agamben anspielt – um nur zwei Beispiele zu nennen. Und doch ist es richtig, dass ein theoretischer Arbeitskreis zu L’insurrection qui vient keine gute Idee wäre. Das Buch will nicht diskutiert werden, weil es nicht überzeugen will, sondern auf Identifikation setzt, besser: auf einen Wiedererkennungseffekt. |
|