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Der Mensch, von dem man uns spricht und zu
dessen Befreiung man einlädt,
ist bereits in sich das Resultat einer Unterwerfung, die viel tiefer ist als er.
Michel Foucault
Gabriel Kuhn: Jenseits von Staat und Individuum
Individualität und autonome Politik
Münster: Unrast Verlag, 168
Seiten, 14 Euro
Seit dem Auftauchen des
neuzeitlichen Individuums im 16. Jahrhundert sind die Menschen einem permanenten
Prozess der Individualisierung ausgesetzt. Diese Entwicklung bedeutet Befreiung
und neue Unterwerfung. Der Neoliberalismus bedeutet zum einen einen weiteren
Individualisierungsschub innerhalb dieses geschichtlichen Prozesses und zum
anderen den erweiterten Zugriff des Kapitals auf die Individualität und
Subjektivität der Menschen. Im Unrast-Verlag ist im vergangenen Jahr ein Buch
erschienen, das sich mit den kollektiven politischen Ansprüchen in einer
individualisierten und individualistischen Gesellschaft auseinandersetzt. In
„Jenseits von Staat und Individuum“ rekonstruiert Gabriel Kuhn den neuzeitlichen
Individualismus und das Verhältnis von Staat und Individuum. Gegen den
neuzeitlichen Individualismus setzt er auf eine „antiindividualistische
Individualität“.
Das Auftauchen des
Individuums sollte den Menschen aus den verschiedenen Abhängigkeiten nach und
nach befreien, doch diese Sichtweise ist zu einfach. Das neuzeitliche Individuum
hat die „Einzelnen eingesperrt, anstatt sie zu befreien, und das, was als
‚Befreiung’ übrig bleibt, ist tatsächlich eine Freisetzung“ (Kuhn 39).
Durch diese Freisetzung findet eine Zerstörung sozialer Kollektivität statt. So
wird aus dem Individuum eine Gefängnis des Einzelnen oder in den Worten von
Foucault, „dass die Macht des Staates … ein zugleich individualisierende und
totalisierende Form der Macht ist“ (zitiert nach: Kuhn 47). Individualisierung
bedeutet nicht Freiheit und Individualität sondern ist Bedingung staatlicher
Totalität. „Individuum und Staat bedingen sich gegenseitig: wo die eine Idee
auftaucht, ist die andere nicht fern“ (Kuhn 48). Das Individuum verdammt den
Menschen dazu ein isolierter Einzelner zu sein. Der Einzelne wird zu einem vom
Staat kontrollierten und verwalteten Individuum. Das Individuum besitzt nicht
wie der Einzelne eine freie Individualität, sondern ist das Ergebnis von
Individualisierung und Homogenisierung. Der Staat hasst die Heterogenität der
Menge, die Multitude, er liebt die Homogenität, er homogenisiert die Multitude
zum Volk, das er besser beherrschen kann. So stellt eine unkontrollierte Gruppe
eine Bedrohung für den Staat dar, „weil sie für nicht-staatliche Formen sozialer
Zusammenhänge steht“ (Kuhn 51). Die Gewerkschaften stellten zu Beginn eine
solche Bedrohung dar. Der Staat hat zwei Möglichkeiten: sie zu bekämpfen oder
sie zu verstaatlichen. Für die Disziplinierung der ArbeiterInnen hat sich die
Verstaatlichung der Gewerkschaft, wie sie in den westlichen Industriestaaten
stattgefunden hat, am meisten ausgezahlt. Wenn Gewerkschaften – wie jüngst die
Gewerkschaft der LokführerInnen – nicht mehr selber bestimmen können, wie und
wofür sie streiken, sondern sich dies von Staat und Kapital vorschreiben lassen,
haben sie ihre eigentliche Funktion verloren.
Der Staat hat Angst vor
der gelebten Kollektivität: „Gesetze werden verabschiedet, um
nicht-kontrollierte Gruppenbildungen zu vermeiden; Demonstrationen werden
zerschlagen und kriminalisiert; soziale Zentren werden geschlossen; autonom
aufgebaute Lebensräume werden unaufhörlich malträtiert; die harmlosesten
individuellen Protestformen werden zum Anlass, eine staatsbedrohende Szene
auszumachen und zu verfolgen; Jugendgangs werden zur Bedrohung für die
Staatssicherheit hochstilisiert; und selbst Fußballstadien werden zu modernsten
Sitzplatzarenen umgebaut, um die unüberschaubaren Fangruppen auf den Stehplätzen
loszuwerden“ (Kuhn 52). Gegen diesen Wahnsinn helfen nur zwei Dinge: gelebte
Kollektivität und antiindividualistische Individualität. Dies heißt für Kuhn,
dass eine konsequente Kritik am neuzeitlichen Individualismus anti-bourgeoise
Lebensformen einfordern muss. Mit Foucault gesprochen, müssen wir neue Formen
der Subjektivität hervorbringen, indem wir die Art von Individualität, die man
uns jahrhundertelang auferlegt hat, zurückweisen. Auch in einer zukünftigen
freien Gesellschaft löst sich die Frage der Individualität und ihr Verhältnis
zur Gemeinschaft nicht in Luft auf, so bemerkt Kuhn, „dass den Einzelnen in
einer kollektiven Lebensgemeinschaft ein Wert zukommen muss, der gerade in
ihrer Individualität besteht, und das deshalb eine antiindividualistische
Gruppe nicht kein Verständnis von Individualität braucht, sondern ein
antiindividualistisches“ (Kuhn 90). Es geht Kuhn um eine Individualität und
Kollektivität jenseits von Staat und verstaatlichtem Individuum. Das Ziel muss
eine antiindividualistische Kollektivität sein, in der die Individualität des
Einzelnen ihren Raum bekommt. So will die antiindividualistische Praxis nach
Kuhn „nicht die Befreiung des Individuums vom Staat, sondern sie richtet sich
gegen die Erzeugung des Individuums durch den Staat“ (Kuhn 105). Nach der
Rekonstruktion des Individuums hat Kuhn die antiindividualistische
Individualität skizziert, dabei ist er der Frage nach der Individualpolitik
nachgegangen und hat sich auf der Suche nach Kollektivität gemacht, am Ende
kommt heraus: „… der Staat bleibt der Feind. Und das Individuum sowieso“ (Kuhn
158).
Jürgen Mümken
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