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Christoph Jünke: Der lange Schatten des Stalinismus. Sozialismus und Demokratie gestern und heute.

Köln: Neuer ISP Verlag, 2007, 207 Seiten, 19,80 Euro

Christoph Jünke eröffnet seine Aufsatzsammlung mit der Diagnose, dass nach dem „Epochenbruch der Jahre 1989-1991“ nicht nur „von einem welthistorischen Sieg des Kapitalismus“ die Rede sein kann, sondern auch von einem „posthume[n] Triumph des Stalinismus“, da dieser es geschafft habe, den „authentischen Kommunismus, die gleichermaßen antikapitalistische wie antistalinistische Linke als eine historische Bewegung wesentlich desorganisiert und mitzerschlagen zu haben“ (7).

Davon ausgehend, dass „uns“ der Stalinismus „in Theorie und Praxis solange verfolgen“ wird, „solange das kapitalistische Bürgertum nicht weltweit enteignet ist und sich die Kräfte eines emanzipativen Sozialismus unwiderruflich durchgesetzt haben“ (14),[1] versucht Jünke einerseits zu klären, welche Stalinismusanalysen am tragfähigsten sind und wendet sich andererseits kritisch den neostalinistischen Diskursen innerhalb der Linken zu. Was die Analyse angeht, so verteidigt er Isaac Deutschers Ausführungen gegenüber den Analysen Werner Hoffmanns, dem Jünke nicht nur „strukturelle Widersprüche“ nachweist (19), sondern auch eine Verklärung des Stalinismus „zu einer gleichsam bürgerlichen Modernisierungsdiktatur“ vorwirft, die den Weg zum Sozialismus geebnet hätte (20). Deutscher hingegen hält Jünke zugute, dass dieser zwar auch von einer unvollendeten Revolution ausgehe, diese aber keineswegs als „Perspektive einer gesicherten oder harmonischen Transformationsperspektive zum möglichen Sozialismus“ verstanden hätte (38). Nachdem sich der zweite Aufsatz mit Georg Lukàcs beschäftigt, dessen widersprüchliche Beurteilungen des Stalinismus kritisch herausgearbeitet werden, wendet sich Jünke mit Leo Kofler demjenigen zu, der ihm zufolge die beste Stalinismusanalyse, vor allem als Ideologiekritik am Stalinismus, bereitgestellt habe.[2] Ausgehend davon, dass der Stalinismus das „Produkt der Interessen der Bürokratie als einer gesellschaftlichen Schicht“ und keineswegs eine historische Notwendigkeit (z.B. 77) sei, gehe Kofler über die Vorstellungen hinaus, die „in Kategorien bürokratischer Verschwörung“ denken würden und betont, dass die „bürokratische Ideologie (…) nicht nur reiner Zynismus, sondern vielmehr objektive Selbsttäuschung, eben Ideologie“ gewesen sei (72). Als die drei charakteristischen „Entstellungen des Marxismus“ werden ausgemacht: die Eliminierung der Dialektik, die Reduzierung auf einen platten Ökonomismus und das Vergessen des marxistischen Humanismus (73). Dass es über Kofler hinaus zu denken gelte macht Jünke vor allem an dessen „nie wirklich reflektierter Leerstelle“ deutlich, wie sich denn „diese sozialistisch-demokratisch selbst tragenden Menschen“ – auf die Kofler setzt – „herausbilden und verstetigen können“ (83). Die Antwort auf diese Problematik besteht Jünke, dies arbeitet er an verschiedenen Stellen seiner Aufsatzsammlung heraus, in einem Rückgriff auf Luxemburgs Vorstellungen einer sofort einzusetzenden sozialistischen Demokratie (40). In diesem Zusammenhang kommt er desöfteren auf den Abscheu vieler Linken vor der bürgerlichen Demokratie zu sprechen, wobei er diesen zugute hält, zwar deren verschleiernden (ökonomischen) Klassencharakter zu erkennen, aber auch vorwirft, dabei die positiven (politischen) Errungenschaften derselben zu übersehen. Auch wenn es deshalb an die emanzipatorischen Potentiale bürgerlicher Demokratie anzuknüpfen und diese auch (da ständig bedroht) einzufordern gelte (105), besteht Jünke darauf, dass der Übergang von bürgerlichen zu sozialistischen Verhältnissen, einen revolutionären „qualitativen Bruch“ erfordere (138). „Die sozialistische Umwälzung kann,“ so Jünke, „anders als alle bisherigen Revolutionen in der Geschichte, nur als eine eminent bewusste und selbsttätige Tat der Bevölkerungsmehrheit gegen eine sie ausbeutende und erniedrigende Minderheit gelingen. Die moderne lohnarbeitende Klasse hat mehr zu verlieren als bloß ihre Ketten. Ihre Entscheidung zum Sozialismus ist nicht die »Freiheit von«, sondern die »Freiheit zu«. (…) Sozialismus stellt erstmals den aktiven, selbstbewussten Menschen in den Mittelpunkt von Arbeit und Leben, nicht als Objekt, sondern als Subjekt.“ (142)      

Von besonderem (aktuellen) Interesse sind auch die Aufsätze zu Luciano Canforas Demokratieverständnis und Domenico Losurdos Neostalinismus (auch der Gastaufsatz von Manfred Behrend über die Weißenseer Irrwege), in denen gezeigt wird, wie erschreckend stark stalinistische Denkfiguren in der Teilen der gegenwärtigen ‚Linken’ vorhanden sind.

In seiner kritischen Stoßrichtung und in seinem Plädoyer für eine linkskommunistische, antistalinistische Politik, liegt zweifellos die Stärke des Buches von Jünke. Auch vielerlei theoretische Einblicke lassen sich auch ihm gewinnen. Nichtsdestotrotz bleibt vieles durchaus undeutlich und auch problematisch. So seine Behauptung, dass der Stalinismus den ihm unterworfenen Menschen (auf Kosten ihre politischen Freiheit) materielle Sicherheit garantiert habe (142). Dies sollte mal den Abertausenden gesagt werden, die bei den stalinschen – zum Großteil völlig unsinnigen – Großprojekten elendig zugrunde gegangen sind. Oder die seltsame Unentschiedenheit gegenüber der Rolle Lenins, bei dem er zwar eine durchaus vorhandene Gefahr erkennt, die Partei zu einer Apriori-Zentralinstanz der Vernunft zu verdinglichen (141), der aber andererseits (implizit) zu stark vom auf ihn folgenden Stalinismus durch Nichtbeachtung entlastet wird. In diesem Zusammenhang muss auch Jünkes Verteidigung eines „originären Marxismus“ genannt werden, der blind für die Frage ist, inwieweit schon bei Marx selbst problematische Denkfiguren angelegt sind. All dies sind Fragen, die sich kritische MarxistInnen zu stellen haben und ja auch stellen. Schließlich kehrt er mit seiner Bemerkung, dass es eine Avantgarde geben müsse zu uralten und prinzipiellen Problemen zurück, die man nicht einfach nur mit dem Hinweis ad acta legen kann, dass deren Verselbständigung verhindert werden müsse (141). Ein ähnlich gelagertes Problem betrifft die Rolle der, von Jünke nicht hinterfragten „Übergangsphase“ und der damit verbundenen Rolle des Staates. Warum gerade die Geschichte des „ehemaligen »Realsozialismus«“ zeige, dass „selbst wenn wir jetzt mit dem Aufbau des Sozialismus beginnen könnten, noch lange politische Repräsentations- und Verwaltungsorgane brauchen – und damit auch eine Form des Staates“ (206), wird nicht recht einsichtig. Fordert diese Geschichte stattdessen nicht vie1mehr, dass man sich auch mit anarchistischen Vorstellungen auseinandersetzen muss und diese nicht einfach nur überheblich abwehrt (104).[3] Völlig zu Recht fordert Jünke ein, eine „Ethik des Klassenkampfes“ zu entwickeln (150). Und so heißt es: „Alle Mittel sind erlaubt, sofern sie die Ohnmacht und Bewusstlosigkeit der lohnarbeitenden Klasse überwinden, deren Klassensolidarität und Klassenautonomie befördern und die allgemeinmenschliche Emanzipation aller unterdrückten und ausgebeuteten Schichten, Ethnien und Geschlechter beflügeln.“ (140) Leider weist eine solche ‚Ethik’ keineswegs über die Leninsche hinaus[4] und wer nach dem letzten Jahrhundert einen Satz mit ‚Alle Mittel sind erlaubt’ beginnt, verfehlt m.E. nicht nur das eigentliche Problem einer sozialistischen Ethik, sondern verhält sich auch verantwortungslos gegenüber dem linken Erbe.[5]   

Alles in allem ist das Buch dennoch zu empfehlen und als engagierte Kampfschrift für einen freiheitlichen und radikal-demokratischen Sozialismus zu würdigen. Gerade auch vor dem Hintergrund der publizistischen Probleme, die der Autor mit seinen Interventionen bekommen hat und den Verleumdungen, denen er ausgesetzt wurde und ist (vgl. 143ff.). 

Wie es keine strategische, sondern eine ethische Anforderung an die Linke bleibt, sich mit dem Stalinismus kritisch auseinanderzusetzen (147), so auch der Kampf für eine andere, bessere Gesellschaft: „’Es ist unsere Pflicht als Sozialisten, dem Kapitalismus zu widerstehen und auch jene Kämpfe zu kämpfen, die besonders hoffnungslos erscheinen. Das ist der Kern unserer Aufgabe: Du kämpfst nicht nur, weil du gewinnen kannst, sondern weil du deine Prinzipien und Werte zu verteidigen hast.’ (Boris Kargalitzki) Darum geht es – und um die Klärung, welchen Prinzipien und Werten wir uns verpflichtet fühlen.“ (207)

Phillippe Kellermann


[1] „Gerade weil der Stalinismus mehr ist als ein geschichtliches Ereignis; weil er ein politisches Denken ausdrückt, das mit den spezifisch nationalen Bedingungen eines Sowjetrusslandes während der 1920er Jahre überhaupt nichts zu tun zu haben braucht; weil er eine spezifische Methodik politischer Theorie und Praxis zum Ausdruck bringt, die allzeit virulent wird, wenn es um Emanzipations- und Transformationsprozesse über den herrschenden Kapitalismus hinaus geht, werden wir das Thema nicht so schnell los.“ (88f.)

[2] Mit dem vor allem vom (ebenfalls heute zu unrecht vergessenen) Austromarxisten Max Adler beeinflussten Leo Kofler hat sich Christoph Jünke in seiner überaus lesenswerten Dissertation beschäftigt (Christoph Jünke: Sozialistisches Strandgut. Leo Kofler. Leben und Werk (1907-1995). VSA, 2007).

[3] Es ist bezeichnend für das historische Bewusstsein vieler Linker, wenn immer wieder auf die ‚prophetische’ Kritik von Luxemburg oder des frühen Trotzkis hingewiesen wird, dabei aber kein Wort darüber verloren wird, dass diese oftmals so wirkt, als sei sie bei Anarchisten des 19.Jhr. abgeschrieben.

[4] „Wir sagen: sittlich ist, was der Zerstörung der alten Ausbeutergesellschaft dient und dem Zusammenschluss aller Werktätigen um das Proletariat, das die neue kommunistische Gesellschaft errichtet.“ (Lenin zit.n. Fetscher, Marxismus, S.274)

[5] Welche brutalen Folgen jene Ethik, nach der der Zweck die Mittel heilige, nach sich zog und welche Rolle sie spielte, wird in so ziemlich jedem Buch ausgeführt, das sich kritisch mit dem Stalinismus beschäftigt. 

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ISSN 1814-3164 
Key title: Grundrisse (Wien, Online)

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