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Benno Teschke: Mythos 1648. Klassen, Geopolitik und die Entstehung des europäischen Staatensystems

Münster: Westfälisches Dampfboot, 2007, 307 Seiten, Euro 39,90 übersetzt von Reinhart Kößler

 

Wie war´ s denn jetzt wirklich?

Im Jahr 2003 erschien „The Myth of 1648: Class, Geopolitics and the Making of Modern International Relations“ von Benno Teschke. Es ist die überarbeitete Fassung seiner Dissertation, die er am Department of International Relations der London School of Economic and Political Science bei Justin Rosenberg verfasste. 2007 erschien die deutsche Übersetzung beim Verlagshaus Westfälisches Dampfboot als Band 22 der Reihe Theorie und Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft (hg. von Heide Gerstenberger und Hans-Günter Thien) mit einer Abweichung im Titel: Statt „Making of Modern International Relations“ heißt es nun „Entstehung des europäischen Staatensystems“.

Einem deutschsprachigen Publikum konnte Teschke schon vorher aufgefallen sein durch einen Eintrag „Geopolitik“ in: Wolfgang-Fritz Haug, Historisch-Kritisches Wörterbuch des Marxismus Bd. 5, Argumentverlag, Berlin 2001. Nachgelesen werden kann er unter http://www.trend.infopartisan.net/trd0302/t170302.html. Das Erscheinen seines Hauptwerks auf Deutsch löste zwar nicht die Begeisterung aus, die die englischsprachige Rezension auszeichnete, hat aber doch Interesse geweckt, wohl auch wegen des Titels, der Klassen und Geopolitik in einem Atemzug nennt. Und da der Verlag ein ausgewiesen linker ist, der die Zeitschrift „prokla“ (als zu empfehlende Lektüre) herausgibt, stellt sich denn doch die Frage nach dieser Zusammenführung. Mit Klassen sind wohl gesellschaftliche Klassen gemeint, nach marxistischen Kriterien beschrieben, also nach der Stellung innerhalb einer Produktionsweise, nach ihrem Eigentum, nach den damit verbundenen Gewalt- und Herrschaftsverhältnissen und Reproduktionsstrategien.

Was Geopolitik betrifft, hat Benno Teschke im oben erwähnten Eintrag das Wesentlichste klargemacht: die Entstehung der Geopolitik als vulgärmaterialistische Wissenschaft von der Beziehung zwischen geographischen Räumen und den Leuten, die sie bewohnen. Er kritisiert, wie diese quasimaterialistische Darstellung sehr schnell in romantischen, gegenaufklärerischen Vorstellungen sich auflöst, aber noch durchaus tragfähiges Fundament für düstere kulturpessimistische, an der Realität vorbeigehende und dann in der Folge blanke imperialistische Herrschaftsideologien bietet bis zur Pointe der Geopolitik als nationalsozialistische Leitwissenschaft für das Volk ohne Raum.

Nach dem Krieg und ausgehend von us-amerikanischen Diskursen wird Geopolitik als das Fach „international relations“ im englischsprachigen Raum (wo Teschke schließlich wirkt und wo er sich damit vertraut macht) wieder rehabilitiert, auch mit dem Verweis darauf, dass Geographie und ihr vorgegebener Raum wohl Konstanten seien, die in die Beschreibung menschlicher Organisationsformen mit eingehen müssten. Dass nun allerdings von IB (Internationale Beziehungen, IR im Englischen) gesprochen wird, macht deutlich, dass eben diese Beschreibung, diese Befassung es nun mit Staaten als ihrem Gegenstand zu tun hat und nicht mehr mit überstaatlichen „Räumen“ oder „Reichen“ wie zu der Zeit des British Empire oder des deutschen Faschismus. Dazu zitiert Teschke noch ergänzend die Kritik Wittfogels, dass eben auch Geographie oder Natur sich je nach herrschender Produktionsweise anders darstellen und nicht als vormenschliche, vorgesellschaftliche Konstante. Anders gesagt, industrielle Produktionsweise sieht auf eine gegebene Geographie mit anderen Augen als eine agrarische Produktionsweise – und nützt und verändert sie entsprechend.

Benno Teschke sieht aber durchaus, dass – ist erst einmal Konsens darüber hergestellt, dass internationale Beziehungen (auch als Fachdisziplin) es mit Staaten zu tun haben – das Werk von Marx es zu einer Theorie des bürgerlichen Staats nicht gebracht hat; weil es Torso blieb, nicht weil Marx dies Thema nicht gesehen und dessen Bedeutung nicht erkannt hätte. Er zitiert die Stellen, an denen Marx sich mit Staaten befasst, nicht in einer theoretischen Ausformulierung, sondern in der journalistischen, agitatorischen, von Hoffnung und Programmatik des Revolutionärs geprägten Sprache. Es scheint so, als hätte Teschke schon hier auch seinen eigenen Gegenstand zur Sprache gebracht, der im Buch nun zur Betrachtung und Anwendung kommt.

Wenn das aber so ist, dann ist wenigstens der Titelteil mit der Jahreszahl ein wenig irreführend, denn mit dem Westfälischen Frieden befasst sich der Autor nur höchst am Rande. Eher ist der westfälische Frieden für ihn ein Punkt der Abstoßung. Er stößt sich ab sowohl von einer Lehrmeinung, die mit dem westfälischen Frieden und dem Ende des Dreißigjährigen Kriegs den Beginn des modernen Staatensystems und der modernen Diplomatie sieht, wie er sich ebenso von diesem Datum abstößt, um die Geschichte Englands und Frankreichs darzustellen – in ihrer Entwicklung durch den Feudalismus hindurch auf europäischer Ebene, nach dem westfälischen Frieden auf ihrer jeweils territorialen Ebene. Dabei unterscheidet er für den Feudalismus die Herausbildung eines politischen „Pluriversums“, also eine Gliederung nach größeren und kleineren Territorien mit je verschiedenen Herrschaftsbedingungen verschiedener herrschender Klassen und je verschiedener Entwicklung und Dynamik. Dem stellt er die absolutistischen Staaten gegenüber, die aus diesem Pluriversum zu den die Entwicklung Europas antreibenden Gemeinwesen werden, Frankreich auf einer diplomatischen Ebene, England, indem es diese Ebene verlässt und durch seine kapitalistische Entwicklung in Gegensatz zur kontinentalen Nachbarschaft kommt, diese aber nun aktiv beeinflussend und herausfordernd.

Bevor wir aber zu diesem historischen Durchgang kommen, der erhellend, komprimiert und dabei durchaus verständlich ist, müssen wir uns durch eine lange fachtheoretische Abhandlung eher mühsam durchbeißen. Dieser (erste) Teil des Buchs ist wohl eher dazu angetan, mit der Disziplin wissenschaftlicher Polemik vertraut zu werden. Es bleiben aber wohltuenderweise die in manchen akademischen Kreisen so gerne gepflogenen geschliffenen Formulierungen aus, mit denen auch noch stilistisches Geschick unter Beweis gestellt werden soll. Da dies ohnehin nicht Teschkes Stärke ist, verzichtet er freundlicherweise darauf. Dennoch ist diese Darstellung der verschiedenen Schulen der IB mit der jeweils angebrachten Kritik am Ende der Darstellung nicht unbedingt die große Pointe des Buchs und dient eher dazu, auf die Position Teschkes hinzuleiten, die er einnimmt und mit der er sich als Marxist deklariert. Und so definiert er als Thema des Werks die Fragen nach geopolitischer Transformation, einer Theorie davon und deren Darstellung in Europa in – wie er selbst sagt – universalgeschichtlicher Perspektive.

Es ist genau diese Großspurigkeit, die mir persönlich das Buch sympathisch macht, auch wenn die damit verbundene Eitelkeit zwar nicht allzu auffällig, aber doch hie und da Flagge zeigt. An diesem großen Anspruch aber gemessen zu werden, müssen sich Buch und Autor wohl gefallen lassen. Diese universalgeschichtliche Ebene, die Teschke einfordert, die er anbietet, äußert sich nun eben in seinem Marxismus, aber auch darin, dass er dann in der Folge auf die vorher kritisierten IB-Richtungen nicht mehr tiefer eingehen wird, sich aber in der wissenschaftlichen und polemischen Auseinandersetzung mit historischen Schulen befassen wird. Namentlich die Weltsystemtheoretiker(Innen) mit der Galionsfigur Wallerstein und die Annalistes mit Braudel werden – wohl zu Recht – ausführlich behandelt und einer fundierten Kritik unterzogen. Für das europäische Mittelalter (und die nachfolgenden Perioden: Absolutismus, westfälisches System) besteht Teschke darauf, dass der Begriff der Produktionsweise zur Anwendung gebracht werden muss und zwar gebunden an Eigentumsregimes, also an Klassenverhältnisse. Sein Gewährsmann dafür ist (neben Marx natürlich) Perry Anderson, dem er zu neuen Ehren verhilft; ja wir könnten sogar von einer Rehabilitation sprechen, nachdem er postmodernen Diskurshegemonien zum Opfer gefallen ist.

Es ist wohl dies auch Teschkes Verständnis von Unversalgeschichte, dass er Parameter zur Beschreibung heranzieht, die zwar die Epochen übergreifen, aber dabei nicht das Trennende zwischen den Epochen verkleistern. Dann ist es auch kein Zufall, dass er auf Perry Andersons Werke zurückgreift (Von der Antike zum Mittelalter, Frankfurt am Main 1974 und Die Entstehung des absolutistischen Staats, Frankfurt am Main 1974; beide noch immer einer Lektüreempfehlung wert, wenn auch meines Erachtens mit Vorbehalt), denn eben dies hat Anderson schon einmal unternommen; das Werkzeug des Marxismus, namentlich der Kritik der politischen Ökonomie, an einem anderen Gegenstand als der bürgerlichen Gesellschaft anzusetzen. Die Frage, die sich bei solch Unterfangen immer stellt, ist nun die, ob dies überhaupt möglich ist; oder anders gefragt: Bedeutet „Kritik der politischen Ökonomie“ die Kritik an einem gesellschaftlichen Zustand, der eine politische Ökonomie, also eine Getrenntheit von Politik und Ökonomie erst hervorgebracht hat und durch diese gekennzeichnet und bestimmt ist, oder handelt es sich bei ihr um eine eigene Disziplin mit diesem Namen, die je nach historischer Empirie sich mit einem anderen Gegenstand befasst und dort zu verschiedenen diskreten Ergebnissen kommt? Teschke wie Anderson beantworten diese Frage nach der zweiten Richtung hin; beide sehen aber, wenn schon nicht in der wissenschaftlichen Methode, so doch in ihrem Gegenstand und den erbrachten Ergebnissen Unterschiede. So zitiert Teschke Anderson mit der Bemerkung: „Daher lassen sich vorkapitalistische Produktionsweisen allein durch ihre politischen, rechtlichen und ideologischen Überbauten definieren, denn diese sind es, die den Typus außerökonomischen Zwangs bestimmen, der diese Gesellschaften spezifiziert.“

Durch die Hervorhebung im Original des „allein“ wird schon ein gewaltiger Unterschied zum bürgerlichen Kosmos aufgerissen, von dem doch die Behauptung gelten soll, dass die ökonomische Basis den ideologischen Überbau bestimmt. Hier bestimmt nun ein Überbau den außerökonomischen Zwang, ein völlig korrekter Hinweis auf eine Gesellschaft, die sich anders definiert, als dies unsere von sich tut, die daher auch ganz anders funktioniert und mit anderen Plausibilitäten und Erklärungen, Legitimationen, Glaubwürdigkeiten und Wahrscheinlichkeiten aufwarten kann. Dennoch stellt sich mir die Frage, warum zu dieser Beschreibung dann auf eine Begrifflichkeit zurückgegriffen werden muss, die unserer Welt entstammt. Im gegenständlichen Zitat wird vom außerökonomischen Zwang gesprochen. Das ist in zweifacher Hinsicht schräg. Wenn dies zur Abgrenzung gegen unsere modernen Verhältnisse dienen soll, dann wird hier eine argumentative Volte insofern geschlagen, als ja für unsere Verhältnisse in Anspruch genommen wird, dass Ausbeutung, also Aneignung unbezahlter Arbeit als Mehrprodukt und deren Realisierung als Mehrwert mit rein ökonomischen Mitteln zu Stande kommt und der dabei vollzogene Tausch höchst gerecht ist (Lohn gegen Arbeitszeit) und gegen kein Vertragsrecht verstößt. Wenn also Ausbeutung etwas anderes ist als Zwang, dann ist es nicht nötig, den Zwang als außerökonomisch zu charakterisieren, nota bene ja ohnehin Übereinkunft darin herrscht, dass im Feudalismus die Politik nicht von der Ökonomie getrennt ist. Was dann die Kategorie „außerökonomisch“ in der Argumentation bewerkstelligen soll, ist mir nicht ganz klar, es sei denn, es schwingt die Andeutung mit, dass bei genauerem Hinsehen eins durchaus auf die Idee kommen könnte, in das Büro oder auf das Arbeitsamt zu gehen, habe etwas mit außerökonomischem Zwang zu tun, nämlich mit nacktem Überleben.

Ganz ähnlich verhält es sich mit der Frage des Mehrprodukts. Teschke charakterisiert das Eigentums- und Klassenregime des Feudalismus mit dem Kampf um das Mehrprodukt zwischen Bauern und Herren. Wenn nun aber diese Gesellschaftsformation nicht über eine ausdifferenzierte Sphäre von Ökonomie verfügte, Produktion und Verzehr respektive Gebrauch des bäuerlichen Gesamtprodukts ineins fielen, kein Instrument zur Messung eines „Mehr“ vorhanden war (weder für die Gesellschaft damals, abgesehen von Hunger und vollem Wanst, noch für uns heute in der Rückschau), wie die Darstellung und Beschreibung des „Mehr“ durch eine Arbeitswerttheorie, wie können wir dann von einem Mehrprodukt sprechen, das mit außerökonomischem Zwang den Bauern abgepresst wurde? Und dabei kann es sich nicht um die Eier handeln, die die Bauernfamilie nicht verzehrt, sondern verkauft (leider kann ich mir nicht verkneifen zu sagen, dass dieses Argument in einer Diskussion wirklich vorgebracht wurde), denn das „abgepresste Mehrprodukt“ wurde durchaus nicht von dem entnommen, was übrig blieb, abgesehen davon, dass Robotleistungen in einer Bestimmung des „Mehr“ überhaupt nicht aufgehen; eher müssen wir von einem Zugriff auf die Gesamtproduktion sprechen – oder diese Alternative wenigstens begrifflich in den Raum stellen. Auch hier also wieder die Frage: Wozu verwenden wir eine Begriffsanalogie aus unserer Gesellschaft ?

Dasselbe trifft auf den Begriff der Klassen zu, wenn auch hier mehr Differenziertheit angebracht ist. Es kann ja gar nicht bestritten werden, dass Bauern und Herren einander antagonistisch und mit divergierenden Interessen gegenüberstanden. Nur ist es so, dass sich Klassen aus ökonomischer Dynamik herausbilden oder wenigstens sich die ökonomische Dynamik legitimatorisch zu Eigen machen (wenn wir von unserer Einlassung einmal absehen wollen, dass auch dem modernen gesellschaftlichen Verhältnis blanker Zwang zu Grunde liegt), nämlich über welche Waren und welches Kapital sie verfügen. Die soziale Differenzierung in vormodernern Zuständen findet aber ihre Ursache im Begriff der Freiheit und damit verbunden der Verwandtschaft. Die außerökonomische Abpressung ist so dechiffrierbar als Alimentationsberechtigung; das Aufstiegsinteresse der Vormodernen war also, frei und verwandt (das heißt: adlig), das Aufstiegsinteresse der Modernen, reich zu werden, also über mehr Kapital und Waren zu verfügen, als über die eigene Arbeitskraft. (Wohlgemerkt, ich spreche jetzt nur vom Aufstiegsinteresse, nicht vom „historischen“ im „Klassenkampf“, die hiesigen und heutigen Verhältnisse überwindenden und transzendierenden Interesse.)

Diese methodischen Einschränkungen und Vorbehalte vorausgesetzt, lässt sich die folgende Lektüre interessant an. Ein großzügiger Parforceritt durch die europäische Geschichte zeigt konzis, wie und warum sich der Kapitalismus in England entwickelt hat. Was der Autor vernachlässigt, ist die außereuropäische Entwicklung. Sie kommt nur vor, soweit sie europäische ist, also Kreuzzug. Es mag nun durchaus legitim sein und darüber hinaus methodisch spannend, vom karolingischen Reich ausgehend, das zwar geographisch höchst ausgedehnt war, aber im Grunde beschränkt war auf das fränkische Kernland, nach und nach der historischen und chronologischen Entwicklung folgend zum „europäischen Pluriversum“ zu gelangen, auch durch begriffliche und inhaltliche Engführungen, die in der Darstellung vereinfachen und klarmachen, wofür andere dann eine Menge komparativistischer Einzeldarstellungen und Monographien in Anschlag bringen. Wenn aber der universalgeschichtliche Anspruch vollmundig verkündet wird, ist es doch ein wenig dünn, wenn der Osten des Kontinents nicht vorkommt, solange er nicht Objekt von Eroberung, Raub und Expansion ist. Ich kann mir vorstellen, dass einige Worte zu Byzanz, Russland, Mongolen und China die europäische mittelalterliche Entwicklung kontrastreicher hervortreten lassen hätten, vor allem, da dies ja den Zeitgenossen nichts Unbekanntes war.

Ebenso ist es beim universalgeschichtlichen Anspruch unerklärlich, dass bei der Bedeutung, die England für die Entwicklung des Kapitalismus hatte, kein Wort darüber verloren wird, wie sich eben dieser Kapitalismus in den Kolonien auswirkte, nicht nur ökonomisch, sondern auch und gerade politisch. Gut, das müssen wir hinnehmen und wir können auch schwerlich dem Autor vorschreiben, was wir lesen wollen. Was er uns schreibt, ist auf Europa beschränkt, auf eine Disziplin der Sozialwissenschaften und auf eine marxistische Methode, die beide im englischsprachigen Raum stärker verankert sind als im deutschsprachigen. Als Lektüre bietet uns Teschke das „gigantische, sich entfaltende menschliche Drama“ der „internationalen Beziehungen nach 1688“ und den europäischen Weg dorthin. Als Resümee schreibt er gegen Ende des Werks: „Es war eine lange und blutige Transformation – eine Übergangsperiode –, in deren Verlauf die Zwillingsprozesse der kapitalistischen Expansion und der Regimetransformation verallgemeinert wurden. Schematisch gesprochen dauerte sie in Europa von 1688 bis zum Ersten Weltkrieg, im Rest der nichtsozialistischen Welt vom Ersten bis zum Zweiten Weltkrieg und in der sozialistischen Welt von 1917/45 bis 1989. Danach kann man sagen, dass eine vollständig integrierte Weltwirtschaft entstanden ist. Die internationalen Beziehungen während dieser langen Transformationsperiode kann man als eher modernisierend bezeichnen denn als modern. Ihre Geschichte muss noch geschrieben werden.“

Dieser zitierte Schematismus ist als Haltung des Autors durch das Buch hindurch zwar einerseits etwas überraschend und ärgerlich, andererseits in seiner Großzügigkeit (beinahe hätte ich geschrieben: Schlamperei) wieder anregend. Immer wieder taucht die Frage bei der Lektüre auf: „Stimmt das denn so? War das wirklich so?“, und ich will jetzt nicht auf die vielen Fragezeichen zurückkommen, die ich mir an die Ränder der Seiten gemacht habe. Aber ein Beispiel sei noch zitiert, weil es so frappierend ist. Es geht um den politischen und ökonomischen Druck des kapitalistischen England, der die restliche Welt verändert: „Diese Strategien (zur Abwehr der kapitalistischen Produktionsweise und zur gleichzeitigen Modernisierung, G. W.) waren nicht einheitlich; sie reichten von der Intensivierung der Ausbeutungsverhältnisse im Inneren und dem Aufbau eines immer repressiveren Staatsapparates mit dem Ziel militärischer und fiskalischer Mobilisierung über „aufgeklärte“ Strategien des Neo-Merkantilismus und Imperialismus bis zur Übernahme einer liberalen Wirtschaftspolitik. Aber in der ein oder anderen Weise mussten sich die vorkapitalistischen Staaten, wollten sie nicht ausgelöscht werden, anpassen, assimilieren oder arrangieren – oder sie mussten Gegenstrategien erfinden, allen voran den Sozialismus.“

Na gut. Die Pointe Teschkes ist es, die Staaten als solche als Produkte der dynastischen Entwicklungen zu begreifen. Es gibt sie nicht trotz, aber auch nicht wegen des Kapitalismus. Der Kapitalismus hat sie übernommen und nach seinen Bedürfnissen angewandt und verwendet. Dabei steht die kapitalistische Ordnung zwischen einem nationalstaatlichen Bedürfnis, das nach der Garantie der Verwertungsbedingungen verlangt und einer transnationalen Bewegungsfreiheit, die staatliche Kompetenzen überspielt und neu regelt. Die Pointe ist aber nicht dieser ohnehin schon lang bekannte und lang diskutierte Widerspruch, sondern die methodische Möglichkeit, mit dieser Konstruktion (Staaten und Klassen nach hinten in die Vergangenheit verlängert) auch die Berechtigung des Fachgebiets der IB zu zementieren. Darüber mag sich freuen, wer sich dem Fach selbst zuzählt und einen „linken“ Anspruch auch noch hat.

Gerold Wallner

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ISSN 1814-3164 
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