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Sebastian Kalicha / Gabriel Kuhn (Hg.): Von Jakarta bis Johannesburg. Anarchismus weltweit.
Münster: UNRAST Verlag, 2010, 400 Seiten, Euro 19.80

Gabriel Kuhn (Hg.): „Neuer Anarchismus“ in den USA. Seattle und die Folgen.
Münster: UNRAST Verlag, 2008, 300 Seiten, Euro 16,80

Uri Gordon: Hier und Jetzt. Anarchistische Praxis und Theorie.
Aus dem Englischen übersetzt von Sophia Deeg.
Hamburg: Edition Nautilus, 2010, 256 Seiten, Euro 18

Buchbesprechungen von Robert Foltin

Nachdem der Anarchismus nach dem Sieg des Bolschewismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts marginalisiert wurde, erlebte er wie viele linke und linksradikale Bewegungen um und nach 1968 einen neuerlichen Aufschwung. Aber erst um die Jahrtausendwende, nach dem Zusammenbruch des „realen Sozialismus“ kann von einer regelrechten weltweiten Welle gesprochen werden. Viele Aktivist_innen der globalen Protestbewegungen sehen sich nicht explizit anarchistisch, nehmen aber viele Strukturen auf, die charakteristisch für den Anarchismus sind: das Auftreten gegen Hierarchien, horizontale Organisation, die Vorwegnahme von Selbstverwaltungsstrukturen, direkte Aktionen, eine Art von Konsensdemokratie etc.

Anarchismus weltweit

Sebastian Kalicha und Gabriel Kuhn versuchen in dutzenden Interviews (und wenigen anderen Beiträgen) die gegenwärtigen anarchistischen Strömungen als weltweite Bewegung zu erfassen („Von Jakarta nach Johannesburg“). Einige methodische Vorgaben verhelfen zu einem gelungenem Überblick (S. 10): Es wurden nur Aktivist_innen interviewt, die sich selbst als Anarchist_innen bezeichnen. Es wurde versucht, solche Personen anzusprechen, die tendenziell einen Überblick über die regionale Szene haben und nicht (all zu sehr) in Konflikte der unterschiedlichen Strömungen involviert sind (was meistens gelungen ist). Außerdem wurden marginale Randgruppen (etwa Anarchokapitalist_innen) außen vor gelassen. Da Nationalstaaten für Anarchist_innen keine Bedeutung haben (sollten), bezieht sich die Einteilung auf Regionen als Referenzräume. Auffällig ist das Gewicht, das Europa zugemessen wird. Als einzige Großregion ist sie noch weiter unterteilt (was natürlich mit der unterschiedlichen Geschichte zu tun hat, wie etwa in Osteuropa). In der Einleitung wird die Problematik angesprochen, dass die anarchistische Szene weiß und männlich dominiert ist, was sich auch in der Auswahl der Interviews ausdrückt, auch wenn versucht wurde, weibliche und indigene Stimmen zu Wort kommen zu lassen.

Das vielfältige Panorama der weltweiten Anarchismen bietet einige interessante und erstaunliche Erkenntnisse. Offensichtlich konzentriert sich der aktuelle Aufschwung auf die „Weißen“ Kontinente Europa, Nord- und Südamerika, während libertäre Strömungen in Afrika marginal sind und auch in Asien nur in wenigen Regionen größere Bedeutung haben. Trotzdem wurde versucht, den globalen Süden angemessen zu repräsentieren

Spannend ist es auch, Neues über die anarchistische Geschichte zu erfahren: dass der lateinamerikanische Anarchismus von europäischen Immigrant_innen (oft aus Italien) geprägt war, war zu erwarten. Dass sich in China (S. 230f) und in Korea (257f) zu Beginn des 20 Jahrhunderts starke anarchistische Strömungen entwickelten und sich in der „Autonomen Provinz Shinmin“ zwischen 1929-1931 eine anarchistisch beeinflusste dörfliche Selbstverwaltung etablieren konnte (258), war mir vollkommen neu.

Der Individualanarchismus spielt kaum mehr eine Rolle, die meisten Anarchist_innen verorten sich auf einer gesellschaftlichen oder kollektiven Seite, auch wenn sich nur wenige ausdrücklich als Anarchokommunist_innen verstehen. Einflussreich sind neuerlich der Anarchosyndikalismus und Strömungen, die sich auf die Wobblies (IWW, Industrial Workers of the World, eine wichtige radikale Gewerkschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts) beziehen. Einzelne Gruppen vertreten allerdings den so genannten „Plattformismus“, ein anarchistisches Programm, wie es von Enrico Malatesta und anderen 1926 formuliert wurde.

Vermeintlich kontradiktorisch zum Bezug auf historische Strömungen erscheint, dass die „neue Welle“ des Anarchismus in den 1980ern oder 1990ern in vielen Regionen mit der Punk-Bewegung verbunden ist, besonders dort, wo es keine historische Kontinuität gibt. Internationale Kontakte wurden häufig bereits durch die Punkkultur hergestellt. Länger bestehende Gruppen versuchen sich oft von diesen als Lifestyle-Anarchist_innen bezeichneten sozialen Zusammenhängen abzugrenzen (damit sind aber auch Strömungen gemeint, die sich ökologisch verorten, queere Lebensformen propagieren oder sich als vegane Tierrechtler_innen verstehen). Die Vielzahl der Beiträge zeigt ein breites Panorama nicht nur des „neuen Anarchismus“. Durch die Auswahl bleibt manchmal unklar, wie stark und bedeutend die Strömungen sind, die sich selbst nicht als Anarchist_innen definieren, da aufgrund der informellen Organisationsstrukturen deren Größe schwer einzuschätzen ist.

Anarchismus in den USA

Der deutschsprachige Raum wird absichtlich ausgelassen, es wird auf eine Reihe von Publikationen hingewiesen[1]. Am auffälligsten war der Aufschwung des Anarchismus der letzten fünfzehn Jahren in den USA, wo er durch die Demonstrationen und Krawalle in Seattle im November 1999 auch in der bürgerlichen Medienlandschaft wahrgenommen wurde. Es gibt nur ein Interview aus den USA, als Ergänzung kann aber die von Gabriel Kuhn herausgegebene und kommentierte Anthologie „’Neuer Anarchismus’ in den USA“ dienen, die einen Überblick über die dortigen Diskussionen und Strömungen bietet. Insbesondere die umfangreichen Einleitungen des Herausgebers erlauben es, die Auseinandersetzungen an Hand der Originaltexte nachzuvollziehen.

Ich will nur einige spannende Diskussionen erwähnen, die dort dokumentiert sind. Da ist einmal der Begriff des „Neuen Anarchismus“ nach Seattle, der sich vom historischen Anarchismus abgrenzt, aber auch heftig kritisiert wird. Viele Diskussionen löste in der Szene auch der so genannte „Schwarze Block“ aus, an dessen Auftreten viele Anarchist_innen anknüpfen, was von anderen kritisiert wird. In einer Nebenbemerkung wird erwähnt, dass sich für manche die Frage stellt, wo der Unterschied zwischen („neuen“) Anarchist_innen in den USA und den Autonomen in Mitteleuropa liege. Ähnliche Fronten der Auseinandersetzung zeigen sich zwischen „traditionellen“ und so genannten „Lifestyle-Anarchist_innen“, einem Begriff, den der einflussreiche anarchistische Theoretiker Murray Bookchin prägte. Auch die weiße und männliche Dominanz des Anarchismus wird in entsprechenden kritischen Beiträgen in Frage gestellt.

Eine speziell auf die USA fokussierte Diskussion ist die Ablehnung des Links-Seins durch manche anarchistische Strömungen („Post-linke Anarchie“). Damit ist nicht der Antikommunismus gemeint, wie er unter vielen Anarchist_innen auf Grund der historischen Erfahrungen verbreitet ist, sondern die Abgrenzung von mit der Linken verbundenen anarchokommunistischen Strömungen. Verbreitet ist diese Tendenz durch den so genannten „Primitivismus“, der in seiner gemäßigten Form technologiefeindlich ist, in seiner extremen Ausformungen jede Form der Zivilisation ablehnt. Da einer der Haupttheoretiker, John Zerzan, öffentlich den „Schwarzen Block“ in Seattle verteidigte, erlangte diese Strömung mehr öffentliche Präsenz als ihr wahrscheinlich zusteht. Diese skurrilen Positionen haben aber einen ähnlichen Einfluss auf die anarchistische Szene der USA wie die Antideutschen in Deutschland und Österreich auf die Autonomen: Extrempositionen werden zwar abgelehnt, aber sektiererische Sichtweisen können sich durchsetzen: oft werden (breitere) soziale Bewegungen von der Szene diffamiert und abgelehnt.

Hier und Jetzt

Wer einen leicht lesbaren Einblick in das Denken des „neuen Anarchismus“ gewinnen will, ist mit „Hier und Jetzt“ des israelischen Aktivisten Uri Gordon gut bedient. Gordon stellt den Anarchismus als Teil der internationalen Bewegung dar, wenn auch mit Schwerpunkt auf den angloamerikanischen Raum. Der Charakter eines Netzwerkes aus vielfältigen Bezugsgruppen und Einzelpersonen wird beschrieben, in deren Kern eine „vorwegnehmende Politik“ steht: direkte Aktion, aber auch dauernde selbst organisierte Projekte. Die Auseinandersetzung um die Macht wird diskutiert; sowohl auf der staatlichen und institutionellen Ebene als auch auf der Mikroebene des Verhaltens auf Plenas und in persönlichen Beziehungen. Das Spannungsverhältnis zwischen Gewaltfreiheit und Militanz wird angesprochen wie auch das zwischen Technikkritik und Technikablehnung auf der einen Seite und Nutzung von Technologie auf der andern. Und nicht zuletzt wird der Umgang mit dem Nationalismus am Beispiel Israel / Palästina diskutiert, was bei einem Aktivisten von „Anarchists against the Wall“ zu erwarten ist.

Wer einen Überblick über die weltweite Verbreitung des Anarchismus sucht, wird sich über „Von Jakarta bis Johannesburg“ freuen, für Genaueres über die aktuellen Diskussionen in den USA ist „’Neuer Anarchismus’ in den USA“ unverzichtbar und wer eine Einführung in aktuelle anarchistische Ideen und Diskussionen sucht, die auch für „unpolitische“ Verwandte lesbar ist, dem sei „Hier und Jetzt“ empfohlen.


 

[1] Eine etwas schiefe Ergänzung könnte das ebenfalls im Unrast Verlag erschienen Buch des ak wantok: „Perspektiven Autonomer Politik“ sein, das Diskussionen im deutschsprachigen Raum sammelt. Der Blick ist schief, weil sich die „autonome Politik“ nur teilweise mit dem Anarchismus überschneidet.

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ISSN 1814-3164 
Key title: Grundrisse (Wien, Online)

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